Das „Dörfle“

Ludwigsburg 17.05.2022

treFf im Museum

Einst Wohnraum für die Wachleute

Die Wohnungen waren klein und kärglich. Aber sie waren bezahlbar. Das „Dörfle“ an der heutigen Friedrich-Ebert-Straße und Alt-Württemberg-Allee war Ludwigsburgs erste und einzige Sozialsiedlung. Ihre Geschichte stand jetzt im Fokus eines Vortrags der Museumsfreunde.

Die Residenzstadt war schon vor 150 Jahren ein teures Pflaster. Selbst den Abgeordneten des Landtags galten die Mieten in Ludwigsburg als „beinahe unerschwinglich“, erzählte Dr. Erich Viehöfer, den Museumsfreunden im MIK. Damals wie heute konnten sich Geringverdiener in der Stadt kaum noch eine Wohnung leisten. Eine passende Bleibe zu finden war Glück.

„Im 18. Jahrhundert gab es noch keine Probleme mit der Unterbringung des Personals des Zucht-, Arbeits- und Waisenhaues in der Schorndorfer Straße. Gegründet wurde es 1736 und später um das sogenannte Armenhaus und Tollhaus erweitert. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde es zu einem reinen Gefängnis umgewandelt, 1827 zur reinen Männerstrafanstalt. Hier saßen bis zu 900 verurteilte Straftäter ein. Taschendiebe, Betrüger, Schläger, während der Nazi-Zeit auch politisch Verfolgte. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren hier im Landesgefängnis insbesondere Rückfalltäter inhaftiert. 1990 wurde die Haftanstalt schließlich nach Heimsheim verlegt.

Unverheiratete Aufseher wohnten mitten unter den Insassen

Die Insassen mussten bewacht werden. Und das Personal dafür wiederum brauchte ein Dach über dem Kopf. Die höheren Beamten wohnten direkt an der Schorndorfer Straße gegenüber vom Schloss. Die niederen Beamten – zwei Zuchtmeister und zwei Zuchtknechte – wohnten zum Teil zwischen den Schlafsälen der Gefangenen mitten unter den Insassen, so Viehöfer, der das Ludwigsburger Strafvollzugsmuseum aufbaute. Die Mehrheit des Sicherheitsdienstes, die acht Nachtwächter und das Militärkommando waren aber keine fest angestellten Aufseher.

Mit der Stadt wuchs auch die Bedeutung der Ludwigsburger Haftanstalt. Im 19. Jahrhundert wurde die Unterbringung der Beschäftigten zum Problem durch die stark angewachsene Zahl von Aufsehern. „Die wenigen unverheirateten Aufseher wohnten in der Anstalt, die verheirateten dagegen verstreut in der Stadt“, erklärte Viehöfer.

Das Justizministerium wünschte, dass das Personal möglichst in der Nähe des Zuchthauses wohnen und zugleich Heimstätten zum Ausruhen von ihrem Beruf finden sollten. Die Ansiedlung der Aufseher in unmittelbarer Nachbarschaft zum Zuchthaus sei „im Interesse ihrer dienstlichen Bereitschaft“.

„Der Neubau vom ‚Dörfle‘ muss im Zusammenhang mit der regen Bautätigkeit des Zuchthauses Ludwigsburg in den 1880er Jahren gesehen werden“, so Viehöfer. In diesem Zeitraum entstanden der alte Zellenbau, der sogenannte „Rote Ochsen“, die Waschküche und die Wagenhalle. Vorbild sollten die „humanen Fabrikbesitzer“ sein, die ihren Arbeitern Siedlungen mit preiswerten Wohnungen bauten – zum Beispiel die Kammgarnspinnerei bei Bietigheim.

Küche und Bad teilten sich jeweils mehrere Mieter

Die Zuchthausverwaltung hatte im Ende 1882 Pläne und Kostenvoranschläge erstellt für zwölf Wohngebäude mit je drei Wohnungen. Insgesamt wollte man Wohnungen für 37 Familien mit 98 Kindern schaffen. Tatsächlich realisiert wurden aber nur neun Häuser mit jeweils vier Wohnungen entlang der heutigen Alt-Württemberg-Allee sowie der Friedrich-Ebert-Straße. Es waren kleine Drei-Zimmer-Wohnungen mit 55 Quadratmetern: Wohnzimmer und Elternschlafzimmer maßen je 15 Quadratmeter, das Kinderzimmer sieben. Dazu kamen Keller und Bühne mit einer Dachkammer. Es fehlte die Küche und das Bad. Das musste man sich mit anderen Mietern teilen. Ein Jahr später bezogen vier Aufseherfamilien das erste Gebäude für jeweils 80 Mark im Jahr.

Die Zuchthausdirektion Ludwigsburg kaufte das Ensemble 1884 für 58000 Mark und stellte es seinen Bediensteten zur Verfügung. Erst 1892 war die zweite Bauphase mit weiteren fünf Häusern abgeschlossen. Die Zahl der Belegschaft stieg auf 70. Um die alle unterbringen zu können, entstand Mitte der 1920er Jahre das größte Gebäude des Dörfle: die Friedrich-Ebert-Straße 41 mit acht Wohnungen. Dazu kamen Waschhaus, Geräteschuppen und Kleintierställe.

Landesdenkmalamt lobt die durchdachte Siedlungskonzeption

1961 fällte die „Denkschrift über die baulichen Maßnahmen zur Sanierung des Landesgefängnisses Ludwigsburg“ ein vernichtendes Urteil über das Dörfle: Die 33 Wohnungen aus den ersten beiden Bauabschnitten seien feucht, ungesund und ohne Bad veraltet. Der Wohnungseingang führe direkt in die nachträglich eingebaute Küche, die ohne Fenster kein direktes Licht bekam oder gelüftet werden konnte. Von dort gingen auch die schmalen Treppen zum Schlafgeschoss ab. Unternommen wurde aber nichts.

Im Sommer 1990, kurz nach der Verlegung der Anstalt nach Heimsheim wurden in Bodenproben aus den Gärten des Dörfle Dioxin gefunden. Den Bewohnern wurde daraufhin empfohlen „unterirdisch wachsende oder bodennahe Früchte“ nicht mehr zu verzehren. Ein Abbruch der Gebäude stand deswegen aber nicht zur Debatte. Das Landesdenkmalamt, stellte die Wohngebäude der ersten Phasen im Dörfle als „erhaltenswert“ unter Denkmalschutz. Es sei ein „seltenes Beispiel einer durchdachten Siedlungskonzeption des späten 19. Jahrhundert, (…) das sich an städtischen Arbeitersiedlungen der Zeit orientiert.“

Neue Besitzerin wurde die städtische Wohnungsbau Ludwigsburg, die die Immobilien grundlegend umbaute und sanierte. „Tatsächlich war und ist das Dörfle die erste und einzige Sozialsiedlung in Ludwigsburg“, so Viehöfer.

Autor: Thomas Faulhaber